von micha » 12.08.2012, 00:14
Volles Zitat aus dem CICERO-Online-Magazin
http://www.cicero.de/salon/deutschlandl ... 13?seite=1
90 JAHRE DEUTSCHLANDLIED
Eine neue Hymne muss her!
VON UWE SOUKUP 11. AUGUST 2012
(Bei der EM hatte es Streit um die Hymne gegeben - Bildunterschrift).
Viel hat sich verändert seit Reichspräsident Friedrich Ebert vor 90 Jahren das Deutschlandlied zur Nationalhymne erhob. Bis heute polarisiert sie - und auch wenn inzwischen nur noch die dritte Strophe gesungen wird: Nie hat ein Parlament über die Hymne abgestimmt
Die Meinungen über das „Lied der Deutschen“, das vor 90 Jahren, am 11. August 1922, vom Reichspräsidenten Friedrich Ebert zur Nationalhymne bestimmt wurde, gingen schon immer weit auseinander. Während Golo Mann in dem Lied noch 1986 „zarte Lyrik“ erkannte, war es Heinrich Böll einfach nur „peinlich“. Egal, wie man dazu steht, Fakt ist, dass Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ als Nationalhymne nie demokratisch legitimiert wurde. Weder hat je ein deutsches Parlament über diese Frage entschieden noch findet sich – im Unterschied zur Flagge – irgendwo ein entsprechender Gesetzestext, der die Nationalhymne bestimmt. Es ist nicht einmal geregelt, wie diese Frage geregelt werden soll.
BILDERGALERIE: 90 JAHRE NATIONALHYMNE – VON HEUSS BIS HEINO
Dieses erstaunliche juristische Vakuum geht auf die Anfangsjahre der Weimarer Republik zurück. Politische Morde der Rechten waren an der Tagesordnung: Matthias Erzberger und Walther Rathenau zählten zu den prominentesten Opfern. Just in dieser Situation entschied der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert, das „Lied der Deutschen“ mit allen drei Strophen per Verordnung zur deutschen Nationalhymne zu dekretieren. Der Hintergedanke dabei soll gewesen sein, die undemokratische Rechte wenn schon nicht für die Republik zu begeistern, so doch wenigstens ruhig zu stellen und ihrem „irregeleiteten Patriotismus“ den richtigen Weg zu weisen. Dieser Plan ist gründlich misslungen, so wie eigentlich alle Pläne Eberts: Die Weimarer Republik entstand links, in einer Friedensrevolution, und endete rechts, bei Hitler.
Schon am späten Abend der Revolution, am 9. November 1918, hatte sich Ebert als neuer Reichskanzler in der Staatskanzlei wiedergefunden und war buchstäblich von dieser Minute an bemüht, die Revolution ungeschehen zu machen. Dazu brauchte er Partner, und die konnte er nicht im eigenen, eher revolutionären Lager finden. Und genauso kam es später auch zu der unglücklichen Hymnenentscheidung.
Geschrieben hatte Heinrich August Hoffmann von Fallersleben das Lied im August 1841 auf Helgoland. Dort wurde es auch 1890 erstmals offiziell gesungen, in Anwesenheit des Kaisers. Es entwickelte sich bald zu einem deutschnationalen und antisemitischen Kampflied. Im Ersten Weltkrieg wurde die Legende verbreitet, junge Soldaten wären „Deutschland, Deutschland über alles“ singend in das feindliche Sperrfeuer gelaufen. Natürlich wusste Ebert um die Belastung des Liedes, aber er gehörte zu jenen Sozialdemokraten, die zu Kriegsbeginn nur noch „Deutsche“ kannten. Er verlor zwei Söhne an der Front, die SPD Millionen von Mitgliedern.
Die rechtsradikalen Freicorps-Verbände, die Ebert bald auf jene früheren Anhänger der SPD schießen ließ, die unzufrieden waren mit seiner „Revolution“, sangen gerne das Deutschlandlied. Ebenso wie die Putschisten vom März 1920, die ihn zur Flucht aus der Hauptstadt nötigten. Nein, eine demokratische Weise war das Lied nie. „Man darf doch nicht vergessen“, kritisierte die Vossische Zeitung 1922 Eberts Entscheidung, „dass in letzter Zeit gerade die rechtsradikalen Kräfte sich des Liedes bemächtigt haben, als ob es sich um eine Art von Parteigesang handelte.“
Ebert versuchte das schwierige Lied zu kaschieren, indem er möglichst oft die dritte Strophe „Einigkeit und Recht und Freiheit“ zitierte und Deutschland lediglich „über alles liebte“, aber es half nichts. „Seit Monaten bemühen sich Sozialisten und Demokraten, das ‚Deutschland-Lied‘ aus dem Lager der ‚Hakenkreuzler‘ zu annektieren. Aber dieses Lied ist vollkommen kompromittiert“, schrieb Weihnachten 1922 ein junger Sozialdemokrat im Vorwärts.
Es mag ja sein, dass Hoffmann von Fallersleben nicht die Weltherrschaft im Sinn hatte, als er „Deutschland, Deutschland über alles“ textete und der Hamburger Verleger Campe es begeistert druckte. In der NS‑Zeit wurde natürlich mit Verve die erste Strophe gesungen, anschließend das Horst‑Wessel‑Lied. Das Welteroberungsprogramm Hitlers hatte einen Soundtrack, der schon immer da war und so klang, als sei die Weltherrschaft a priori die politische Bestimmung der Deutschen gewesen: „Über alles in der Welt.“
Man sollte meinen, das „Lied der Deutschen“ wäre spätestens nach den Hitlerjahren unrettbar verloren gewesen. Viele sahen das so. Auch „Papa Heuss“, der erste Bundespräsident. Lange wehrte er sich gegen Adenauers Wunsch, die alte Hymne wieder einzusetzen, gab einen Text in Auftrag, bat Carl Orff um eine Melodie – vergeblich. Die neue Hymne, die Heuss nach seiner Silvesteransprache 1951 präsentierte, fiel beim Publikum durch. Adenauer nutzte die Gunst der Stunde. Während eines tatsächlich „Staatsbesuch“ genannten Aufenthalts in Westberlin forderte er im Titania-Palast in Berlin-Steglitz das Publikum vollkommen überraschend auf, sich zu erheben und mit ihm die dritte Strophe des Deutschlandlieds zu singen: „Wenn ich Sie nunmehr bitte, die dritte Strophe des Deutschlandlieds zu singen, dann sei uns das ein heiliges Gelöbnis, dass wir ein einiges Volk, ein freies Volk und ein friedliches Volk sein wollen.“ Niemandem fiel auf, dass es das Wort Frieden in der deutschen Hymne gar nicht gibt.
Franz Neumann, Berliner SPD‑Chef, verließ aus Protest den Saal, andere folgten. Die SPD nannte den Vorgang eine „eigenmächtige Handlung mit schwierigsten nationalen Folgen“. Das Lied sei von den Nationalsozialisten entwertet worden. Jakob Kaiser, Adenauers „Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen“, schwärmte: „Ein schöner Staatsstreich!“ Im Tagesspiegel hieß es am nächsten Tag, dass der Kanzler nicht habe klären können, „ob es sich um eine Improvisation oder um ein Missverständnis bei der Aufstellung des Programms“ gehandelt habe. Dabei hatte er vor der Veranstaltung den Text der dritten Strophe auf die Sitze legen lassen. Sicher ist sicher.
Bundespräsident Heuss ließ sich vernehmen, „das Singen der dritten Strophe des Deutschlandlieds bedeute keine Entscheidung über eine Nationalhymne“. Die Zeit dafür sei noch nicht reif. Er hoffte auf den Erfolg seiner in Auftrag gegebenen neuen Hymne und blockierte Adenauer noch einige Monate. Doch als seine Hymne keinen Anklang fand, einigte er sich mit Adenauer zähneknirschend in einem Briefwechsel, der anschließend von der Bundesregierung veröffentlicht wurde, als handle es sich um ein Gesetz. Um mit sich selbst „im Reinen zu bleiben“, wie Heuss schrieb, wolle er aber auf eine feierliche Proklamation verzichten. Ausdrücklich wird in diesem Briefwechsel erneut das gesamte Lied – alle drei Strophen – zur Nationalhymne erklärt. Der letzte Satz Adenauers lautet: „Bei staatlichen Veranstaltungen soll die dritte Strophe gesungen werden.“ Schwer nachvollziehbar, wie aus diesem lapidaren Satz die weitverbreitete, aber falsche Annahme entstehen konnte, die erste, die „Deutschland-Deutschland-über-alles“-Strophe sei verboten.
Dass alle drei Strophen Teil der Nationalhymne blieben, hatte über Jahrzehnte eine ganze Reihe von Skandalen und Skandälchen zur Folge. Immer wieder ließen vor allem christdemokratische Politiker den Text der gesamten Hymne drucken und in Schulen verteilen oder sangen in der Öffentlichkeit demonstrativ die erste Strophe. Auch die deutsche Fußballnationalmannschaft stimmte vor dem Endspiel 1954 in Bern die erste Strophe an, ebenso wie die 20 000 deutschen Schlachtenbummler nach dem überraschenden Sieg. Damit sich das bei der Siegerfeier im Berliner Olympiastadion nicht wiederholte, las Theodor Heuss den versammelten 80 000 Zuschauern den Text der dritten Strophe vor.
Während der Wiedervereinigungsverhandlungen der beiden deutschen Staaten 1990 tauchte der Gedanke auf, eine neue Hymne aus Versatzstücken beider Staatslieder zusammenzubasteln, da die Versmaße fast identisch waren. Daraus wurde nichts. Manche brachten auch Brechts sogenannte „Kinderhymne“ ins Spiel, die er aus Ärger über Adenauers Coup im Titania-Palast geschrieben hatte. Aber Helmut Kohl hatte schon 1987 gewarnt: „Wer gegen das Deutschlandlied ist, der will eine andere Republik.“ Das war mit Kohl nicht zu machen. Immerhin hatte er 1949 als 19-Jähriger an einer Wahlkampfveranstaltung in Landau teilgenommen, bei der Adenauer den Trick mit der dritten Strophe schon einmal ausprobiert hatte.
BILDERGALERIE: 90 JAHRE NATIONALHYMNE – VON HEUSS BIS HEINO
Nach der Wiedervereinigung erinnerten sich Bundeskanzler Kohl und Bundespräsident von Weizsäcker der Methode Adenauer/Heuss und griffen zur Feder. In knappen Briefen teilten sie sich gegenseitig mit, dass nunmehr allein „die dritte Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn die Nationalhymne für das deutsche Volk“ sei.
Deutschland im Jahre 2012: Wäre es nicht an der Zeit, sich einmal grundsätzlich um die Frage der Hymne zu kümmern, statt unsere Fußballnationalspieler, vor allem jene mit Migrationshintergrund, tadelnd aufzufordern, dieses schwierige Lied mitzusingen? Uns eine Hymne zu geben, die nicht peinlich ist, die niemanden beschämt und niemanden verletzt? Die auch Menschen singen können, deren Heimat vor Jahrzehnten zu den Klängen unserer Hymne in Schutt und Asche gelegt wurde? Sicherlich ist eine Nationalhymne kein Hemd, das man so einfach wechselt. Aber dieses Hemd ist unmodern, verschlissen und blutbefleckt.
Volles Zitat aus dem CICERO-Online-Magazin
http://www.cicero.de/salon/deutschlandlied-nationalhymne-neunzig-jahre-eine-neue-hymne-muss-her/51513?seite=1
90 JAHRE DEUTSCHLANDLIED
Eine neue Hymne muss her!
VON UWE SOUKUP 11. AUGUST 2012
(Bei der EM hatte es Streit um die Hymne gegeben - Bildunterschrift).
Viel hat sich verändert seit Reichspräsident Friedrich Ebert vor 90 Jahren das Deutschlandlied zur Nationalhymne erhob. Bis heute polarisiert sie - und auch wenn inzwischen nur noch die dritte Strophe gesungen wird: Nie hat ein Parlament über die Hymne abgestimmt
Die Meinungen über das „Lied der Deutschen“, das vor 90 Jahren, am 11. August 1922, vom Reichspräsidenten Friedrich Ebert zur Nationalhymne bestimmt wurde, gingen schon immer weit auseinander. Während Golo Mann in dem Lied noch 1986 „zarte Lyrik“ erkannte, war es Heinrich Böll einfach nur „peinlich“. Egal, wie man dazu steht, Fakt ist, dass Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ als Nationalhymne nie demokratisch legitimiert wurde. Weder hat je ein deutsches Parlament über diese Frage entschieden noch findet sich – im Unterschied zur Flagge – irgendwo ein entsprechender Gesetzestext, der die Nationalhymne bestimmt. Es ist nicht einmal geregelt, wie diese Frage geregelt werden soll.
BILDERGALERIE: 90 JAHRE NATIONALHYMNE – VON HEUSS BIS HEINO
Dieses erstaunliche juristische Vakuum geht auf die Anfangsjahre der Weimarer Republik zurück. Politische Morde der Rechten waren an der Tagesordnung: Matthias Erzberger und Walther Rathenau zählten zu den prominentesten Opfern. Just in dieser Situation entschied der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert, das „Lied der Deutschen“ mit allen drei Strophen per Verordnung zur deutschen Nationalhymne zu dekretieren. Der Hintergedanke dabei soll gewesen sein, die undemokratische Rechte wenn schon nicht für die Republik zu begeistern, so doch wenigstens ruhig zu stellen und ihrem „irregeleiteten Patriotismus“ den richtigen Weg zu weisen. Dieser Plan ist gründlich misslungen, so wie eigentlich alle Pläne Eberts: Die Weimarer Republik entstand links, in einer Friedensrevolution, und endete rechts, bei Hitler.
Schon am späten Abend der Revolution, am 9. November 1918, hatte sich Ebert als neuer Reichskanzler in der Staatskanzlei wiedergefunden und war buchstäblich von dieser Minute an bemüht, die Revolution ungeschehen zu machen. Dazu brauchte er Partner, und die konnte er nicht im eigenen, eher revolutionären Lager finden. Und genauso kam es später auch zu der unglücklichen Hymnenentscheidung.
Geschrieben hatte Heinrich August Hoffmann von Fallersleben das Lied im August 1841 auf Helgoland. Dort wurde es auch 1890 erstmals offiziell gesungen, in Anwesenheit des Kaisers. Es entwickelte sich bald zu einem deutschnationalen und antisemitischen Kampflied. Im Ersten Weltkrieg wurde die Legende verbreitet, junge Soldaten wären „Deutschland, Deutschland über alles“ singend in das feindliche Sperrfeuer gelaufen. Natürlich wusste Ebert um die Belastung des Liedes, aber er gehörte zu jenen Sozialdemokraten, die zu Kriegsbeginn nur noch „Deutsche“ kannten. Er verlor zwei Söhne an der Front, die SPD Millionen von Mitgliedern.
Die rechtsradikalen Freicorps-Verbände, die Ebert bald auf jene früheren Anhänger der SPD schießen ließ, die unzufrieden waren mit seiner „Revolution“, sangen gerne das Deutschlandlied. Ebenso wie die Putschisten vom März 1920, die ihn zur Flucht aus der Hauptstadt nötigten. Nein, eine demokratische Weise war das Lied nie. „Man darf doch nicht vergessen“, kritisierte die Vossische Zeitung 1922 Eberts Entscheidung, „dass in letzter Zeit gerade die rechtsradikalen Kräfte sich des Liedes bemächtigt haben, als ob es sich um eine Art von Parteigesang handelte.“
Ebert versuchte das schwierige Lied zu kaschieren, indem er möglichst oft die dritte Strophe „Einigkeit und Recht und Freiheit“ zitierte und Deutschland lediglich „über alles liebte“, aber es half nichts. „Seit Monaten bemühen sich Sozialisten und Demokraten, das ‚Deutschland-Lied‘ aus dem Lager der ‚Hakenkreuzler‘ zu annektieren. Aber dieses Lied ist vollkommen kompromittiert“, schrieb Weihnachten 1922 ein junger Sozialdemokrat im Vorwärts.
Es mag ja sein, dass Hoffmann von Fallersleben nicht die Weltherrschaft im Sinn hatte, als er „Deutschland, Deutschland über alles“ textete und der Hamburger Verleger Campe es begeistert druckte. In der NS‑Zeit wurde natürlich mit Verve die erste Strophe gesungen, anschließend das Horst‑Wessel‑Lied. Das Welteroberungsprogramm Hitlers hatte einen Soundtrack, der schon immer da war und so klang, als sei die Weltherrschaft a priori die politische Bestimmung der Deutschen gewesen: „Über alles in der Welt.“
Man sollte meinen, das „Lied der Deutschen“ wäre spätestens nach den Hitlerjahren unrettbar verloren gewesen. Viele sahen das so. Auch „Papa Heuss“, der erste Bundespräsident. Lange wehrte er sich gegen Adenauers Wunsch, die alte Hymne wieder einzusetzen, gab einen Text in Auftrag, bat Carl Orff um eine Melodie – vergeblich. Die neue Hymne, die Heuss nach seiner Silvesteransprache 1951 präsentierte, fiel beim Publikum durch. Adenauer nutzte die Gunst der Stunde. Während eines tatsächlich „Staatsbesuch“ genannten Aufenthalts in Westberlin forderte er im Titania-Palast in Berlin-Steglitz das Publikum vollkommen überraschend auf, sich zu erheben und mit ihm die dritte Strophe des Deutschlandlieds zu singen: „Wenn ich Sie nunmehr bitte, die dritte Strophe des Deutschlandlieds zu singen, dann sei uns das ein heiliges Gelöbnis, dass wir ein einiges Volk, ein freies Volk und ein friedliches Volk sein wollen.“ Niemandem fiel auf, dass es das Wort Frieden in der deutschen Hymne gar nicht gibt.
Franz Neumann, Berliner SPD‑Chef, verließ aus Protest den Saal, andere folgten. Die SPD nannte den Vorgang eine „eigenmächtige Handlung mit schwierigsten nationalen Folgen“. Das Lied sei von den Nationalsozialisten entwertet worden. Jakob Kaiser, Adenauers „Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen“, schwärmte: „Ein schöner Staatsstreich!“ Im Tagesspiegel hieß es am nächsten Tag, dass der Kanzler nicht habe klären können, „ob es sich um eine Improvisation oder um ein Missverständnis bei der Aufstellung des Programms“ gehandelt habe. Dabei hatte er vor der Veranstaltung den Text der dritten Strophe auf die Sitze legen lassen. Sicher ist sicher.
Bundespräsident Heuss ließ sich vernehmen, „das Singen der dritten Strophe des Deutschlandlieds bedeute keine Entscheidung über eine Nationalhymne“. Die Zeit dafür sei noch nicht reif. Er hoffte auf den Erfolg seiner in Auftrag gegebenen neuen Hymne und blockierte Adenauer noch einige Monate. Doch als seine Hymne keinen Anklang fand, einigte er sich mit Adenauer zähneknirschend in einem Briefwechsel, der anschließend von der Bundesregierung veröffentlicht wurde, als handle es sich um ein Gesetz. Um mit sich selbst „im Reinen zu bleiben“, wie Heuss schrieb, wolle er aber auf eine feierliche Proklamation verzichten. Ausdrücklich wird in diesem Briefwechsel erneut das gesamte Lied – alle drei Strophen – zur Nationalhymne erklärt. Der letzte Satz Adenauers lautet: „Bei staatlichen Veranstaltungen soll die dritte Strophe gesungen werden.“ Schwer nachvollziehbar, wie aus diesem lapidaren Satz die weitverbreitete, aber falsche Annahme entstehen konnte, die erste, die „Deutschland-Deutschland-über-alles“-Strophe sei verboten.
Dass alle drei Strophen Teil der Nationalhymne blieben, hatte über Jahrzehnte eine ganze Reihe von Skandalen und Skandälchen zur Folge. Immer wieder ließen vor allem christdemokratische Politiker den Text der gesamten Hymne drucken und in Schulen verteilen oder sangen in der Öffentlichkeit demonstrativ die erste Strophe. Auch die deutsche Fußballnationalmannschaft stimmte vor dem Endspiel 1954 in Bern die erste Strophe an, ebenso wie die 20 000 deutschen Schlachtenbummler nach dem überraschenden Sieg. Damit sich das bei der Siegerfeier im Berliner Olympiastadion nicht wiederholte, las Theodor Heuss den versammelten 80 000 Zuschauern den Text der dritten Strophe vor.
Während der Wiedervereinigungsverhandlungen der beiden deutschen Staaten 1990 tauchte der Gedanke auf, eine neue Hymne aus Versatzstücken beider Staatslieder zusammenzubasteln, da die Versmaße fast identisch waren. Daraus wurde nichts. Manche brachten auch Brechts sogenannte „Kinderhymne“ ins Spiel, die er aus Ärger über Adenauers Coup im Titania-Palast geschrieben hatte. Aber Helmut Kohl hatte schon 1987 gewarnt: „Wer gegen das Deutschlandlied ist, der will eine andere Republik.“ Das war mit Kohl nicht zu machen. Immerhin hatte er 1949 als 19-Jähriger an einer Wahlkampfveranstaltung in Landau teilgenommen, bei der Adenauer den Trick mit der dritten Strophe schon einmal ausprobiert hatte.
BILDERGALERIE: 90 JAHRE NATIONALHYMNE – VON HEUSS BIS HEINO
Nach der Wiedervereinigung erinnerten sich Bundeskanzler Kohl und Bundespräsident von Weizsäcker der Methode Adenauer/Heuss und griffen zur Feder. In knappen Briefen teilten sie sich gegenseitig mit, dass nunmehr allein „die dritte Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn die Nationalhymne für das deutsche Volk“ sei.
Deutschland im Jahre 2012: Wäre es nicht an der Zeit, sich einmal grundsätzlich um die Frage der Hymne zu kümmern, statt unsere Fußballnationalspieler, vor allem jene mit Migrationshintergrund, tadelnd aufzufordern, dieses schwierige Lied mitzusingen? Uns eine Hymne zu geben, die nicht peinlich ist, die niemanden beschämt und niemanden verletzt? Die auch Menschen singen können, deren Heimat vor Jahrzehnten zu den Klängen unserer Hymne in Schutt und Asche gelegt wurde? Sicherlich ist eine Nationalhymne kein Hemd, das man so einfach wechselt. Aber dieses Hemd ist unmodern, verschlissen und blutbefleckt.